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MILIZPOLITIK: PLÄDOYER FÜR EIN GEMEINDEREFERENDUM

Handelns auf die Gemeinden als dritte Staatsebene abgeschätzt und, soweit möglich, unerwünschte Konsequenzen vermieden werden. Allerdings: Die zunehmende Komplexi- tät der Aufgaben, die Verrechtlichung und dieTendenz zur Kompetenzverlage- rung hin zu Kanton und Bund machen es den Gemeinden nicht leicht, ihre Aufga- ben auch weiterhin autonom zu erfüllen. Die «Miliztauglichkeit» wird infrage ge- stellt. Obwohl als Staatsebene unver- zichtbar, ist auf Gemeindeebene heute die Gestaltungsfreiheit und Autonomie bedroht. Die Gemeinden konnten letzt- lich ihren Autonomiegrad auch mit dem neuenArtikel 50 BV nicht verbessern. Im Gegenteil: Laut einer seit 1994 regelmäs- sig durchgeführten Befragung der Stadt- und Gemeindeschreiber nimmt die Ge- meindeautonomie stetig ab. Einfach zuschauen? Nein! Die schweizerische direkte Demokratie kann nur erhalten werden, wenn sie auch in Zukunft ihre integrierende Wir- kung auf allen drei staatlichen Ebenen entfalten kann. Der zur schweizerischen Staatsidee gehörendeAnspruch, die po- litische Gestaltung so weit wie möglich den Bürgern zu überlassen, setzt voraus, dass auch den Kantonen und vor allem den Gemeinden eigenständiger Gestal- tungsspielraum verbleibt. Die Gemeindeautonomie sollte weiter- hin eine lokale Identifikationsmöglich- keit in der individualisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts bieten. Ansonsten ist die soziale Kohäsion in Gefahr. Nur wenn Gestaltungsfreiheit gegeben ist, interessieren sich die Bürgerinnen und die Bürger auch für die entsprechenden Milizämter auf Gemeindeebene. Die Ge- meindeautonomie muss von Bund und Kantonen als essenzielles Postulat für die zukünftige Gestaltung des Staates begriffen und wieder ernster genommen werden. In der aktuellen Situation ist es dringend notwendig, dass die Gesetzge- ber in Bund und Kantonen stets ernst- haft nach Gemeindeautonomie-freund- lichen Lösungen suchen. Entscheide, die nahe beim Bürger gefällt werden, sind in der Regel besser akzeptiert. Weiter gehende institutionelle Mecha- nismen für die Erhaltung der Gemein- deautonomie drängen sich auf. In sieben Kantonen existiert bereits ein «Gemein- dereferendum». Dort können die Ge- meinden das Referendum gegen Kan- tonserlasse ergreifen und so dasVolk für eine Abstimmung an die Urne bitten. Es handelt sich um die Kantone Basel-Land- Das Gemeindereferendum gibt es in sieben Kantonen

schaft, Graubünden, Jura, Luzern, Solo- thurn,Tessin und Zürich. Beim Gemeindereferendum auf kanto- naler Ebene variiert die Anzahl Gemein- den, die nötig sind, damit ein Gemein- dereferendum zustande kommt, von Kanton zu Kanton. Im Kanton Solothurn etwa reichen fünf von 121 Gemeinden, um das Referendum zu ergreifen (knapp 4,1%), während im Kanton Luzern ein Viertel der 87 Gemeinden (25%) dafür nötig sind. In allen Kantonen mit Ge- meindereferendum ist weder eine Min- destanzahl von Einwohnerinnen und Einwohnern vorgesehen, noch werden die Einwohnerzahlen der einzelnen Ge- meinden berücksichtigt. Mit dem Gemeindereferendum wird die Stellung der Gemeinden im Kanton ge- stärkt. Beschlüsse des kantonalen Parla- ments, welche die Gemeinden in beson- deremMasse betreffen, können so aktiv bekämpft werden, indem eine Volksab- stimmung verlangt wird. Das langwie- rige und kostenintensive Sammeln von Unterschriften entfällt. Durch das Ge- meindereferendum wird die Wahr- scheinlichkeit erhöht, dass die Stimmbe- rechtigten über eine dem fakultativen Referendum unterstehende Vorlage ab- stimmen können, wenn sie für die Ge- meinden von zentraler Bedeutung ist. Wir schlagen vor, dass in Ergänzung zum Kantonsreferendum zusätzlich ein Ge- meindereferendum auf Bundesebene eingeführt wird. Damit könnte bei einer Vorlage, durch welche die Gemeinden ihre Gestaltungsfreiheit bedroht sehen, das Volk als Schiedsrichter entscheiden, ob es dem Erlass des Bundesparlamen- tes zustimmt oder ob es den Gemeinden recht gibt. Mit der Einführung eines Gemeindere- ferendums würde nicht in die kantonale Kompetenz eingegriffen, über den Be- stand und die Stellung der Gemeinden eigenständig zu bestimmen. 200 Gemeinden aus 15 Kantonen Zwar würde eine durch die Bundesver- fassung bestimmteAnzahl von Gemein- den im Bereich des fakultativen Refe- rendums auf die gleiche Ebene wie die acht Kantone mit ihrem Kantonsrefe- rendum gehoben. Die durch das Ge- meindereferendum neu geschaffene (abwehrende) Einflussmöglichkeit kom- munaler Organe inAngelegenheiten des Bundes wäre aber eine sinnvolle Ergän- zung und würde somit nicht zu einer Verschiebung der Kräfte im föderalisti- schen System zulasten der Kantone füh- ren. Zu erwähnen ist zudem, dass es Ein zusätzliches Gemeindereferendum auf Bundesebene drängt sich auf

heute anerkanntermassen schon eine ganze Reihe von Bereichen gibt, wo ein direkter Durchgriff des Bundes auf die Gemeinden stattfindet. Da für ein Kantonsreferendum die Un- terstützung von acht Ständen nötig ist (Art. 141 Abs. 1 BV), ist sehr genau abzu- wägen, wie vielen Gemeinden gleich viel Einfluss eingeräumt werden sollte. Wir machen den Vorschlag, dass es 200 Ge- meinden aus mindestens 15 Kantonen möglich sein soll, das Referendum zu ergreifen. Das Referendumsrecht wirkt sich im po- litischen Prozess insgesamt «nur» be- wahrend aus, denn es wendet die vom Parlament ausgehendenVeränderungen ab oder schiebt sie zumindest hinaus. Die Gemeinden würden somit nicht aktiv verändernd in die Bundesgesetzgebung eingreifen. Auch ist zu erwarten, dass es genauso selten wie das Kantonsrefe- rendum benutzt würde. Das Referen- dumsrecht ist aber zentral, weil es Vor- wirkungen entfaltet, indem es die Regierung, das Parlament und auch die Verwaltung bereits vor der Beschlussfas- sung zwingt, die Interessen möglichst aller referendumsfähigen politischen Gruppen zu berücksichtigen und einen tragfähigen Kompromiss zu suchen. In diesem Sinn würde das Gemeinderefe- rendum zu einer stärkeren Berücksichti- gung der Anliegen der Gemeinden füh- ren. Das hauptsächlich auf die Beibehaltung der geltenden Rechtsord- nung gerichtete Referendum ist darum ein zweckmässiges Instrument, um die Stellung der Gemeinden zu stärken. Mit der Ergreifung des Referendums gegen eineVorlage können zwar unlieb- same negative Veränderungen verhin- dert, aber keine Neuerungen herbei- geführt werden. Diesemüsstenweiterhin mit den bereits geltenden Instrumenten gegenüber Bund und Kantonen erwirkt werden. Das Gemeindereferendum auf Bundesebene wäre somit ein behutsa- mer, kleiner Schritt, welcher als Hebel dafür sorgt, dass der Gemeindeautono- mie und dem Milizsystem auf Gemein- deebene vermehrt die gebührende Be- achtung geschenkt wird. Reto Lindegger, Direktor Schweizeri­ scher Gemeindeverband (SGV) Andreas Müller, Projektleiter Miliz

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SCHWEIZER GEMEINDE 9 l 2017

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